Schriftstellerin und Psychoanalytikerin (1861-1937)
Die Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé stammte aus einer russisch-deutschen Familie in St. Petersburg. Nach dem Tod des Vaters zog sie mit ihrer Mutter im Herbst 1880 nach Zürich und besuchte Vorlesungen in Philosophie und Theologie an der Universität Zürich, die als eine von wenigen Hochschulen jener Zeit auch Frauen zum Studium zuließ. Im Salon der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Malwida von Meysenbug lernte sie in Rom Paul Rée und Friedrich Nietzsche kennen. Beide machten ihr einen Heiratsantrag. Mit Paul Rée lebte sie drei Jahre lang zusammen in Berlin. 1887 heiratete sie den Orientalisten Friedrich Carl Andreas. Sie stand in Kontakt zum „Freundeskreis der Freien Volksbühne “ um Richard Dehmel, Max Halbe, Knut Hamsun, Maximilian Harden, Gerhart Hauptmann, Hugo Höppener (genannt Fidus), Erich Mühsam und Frank Wedekind. 1897 lernte sie Rainer Maria Rilke kennen. Was sie zu jenem Zeitpunkt nicht wusste: Schon vorher hatte er ihr eine Reihe von anonymen Briefen mit beigefügten Gedichten zukommen lassen. Es folgten gemeinsame Sommermonate im Isartal nahe München. In Berlin machte sie Rilke mit dem Denken Nietzsches bekannt und lenkte sein Interesse auf die russische Literatur. Nach einer zweiten gemeinsamen Russlandreise 1900 trennte sich Lou Andreas-Salomé von Rilke. 1911 traf sie erstmals in Wien mit Sigmund Freud zusammen. Im Wintersemester 1912/1913 hörte sie Freuds Vorlesung in der Psychiatrischen Klinik über „Einzelne Kapitel aus der Lehre von der Psychoanalyse “ und nahm an seinen „Mittwochssitzungen “ und „Samstags-Kollegs “ teil. Freud riet ihr zum Beruf der Psychoanalytikerin. Sie schrieb Aufsätze für die psychoanalytische Zeitschrift „Imago “ und war schon 1913 Gastrednerin beim Psychoanalytischen Kongress in Berlin. 1915 eröffnete sie in ihrem Wohnhaus in Göttingen die erste psychoanalytische Praxis der Stadt.
Quelle: Wikipedia
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Paris, Hôtel Monsigny, Rue Monsigny, (grande avenue de l’Opera), [Anfang April 1894], Kl.-4°. 4 Seiten. Doppelblatt.
Einer der frühesten im Handel befindlichen Briefe Lou Andreas-Salomés, geschrieben an die Jugendfreundin "Misulka" während der ersten Reise nach Paris 1894, reich an Anspielungen und Bezügen auf das Leben und die Denkweise der sich emanzipierenden, allein reisenden jungen Frau: "Liebste Misulka! Ich freute mich so sehr als ich so bald nach meiner Ankunft Deinen Brief hierher bekam, und nun ist doch schon ein Monat vergangen, ohne daß ich Dir geantwortet hätte. Aber dieser erste Monat der 'Akklimatisation' ist nur so hingeflogen, wie Du Dir denken kannst, und namentlich kam ich nicht zum Schreiben, weil mein Zimmer eng und klein und unbequem war; ich möchte aber dieses Hôtel um der vornehmen Gegend willen in der es liegt, und die für eine einzelne Dame sehr vorzuziehen ist. Nach ...Einer der frühesten im Handel befindlichen Briefe Lou Andreas-Salomés, geschrieben an die Jugendfreundin "Misulka" während der ersten Reise nach Paris 1894, reich an Anspielungen und Bezügen auf das Leben und die Denkweise der sich emanzipierenden, allein reisenden jungen Frau: "Liebste Misulka! Ich freute mich so sehr als ich so bald nach meiner Ankunft Deinen Brief hierher bekam, und nun ist doch schon ein Monat vergangen, ohne daß ich Dir geantwortet hätte. Aber dieser erste Monat der 'Akklimatisation' ist nur so hingeflogen, wie Du Dir denken kannst, und namentlich kam ich nicht zum Schreiben, weil mein Zimmer eng und klein und unbequem war; ich möchte aber dieses Hôtel um der vornehmen Gegend willen in der es liegt, und die für eine einzelne Dame sehr vorzuziehen ist. Nach einiger Zeit ziehe ich etwas weiter hinaus, wo es ländlicher, frischer und geräumiger ist. Das brauche ich auch zum Arbeiten, welches nun ordentlich anfangen muß, ich habe drei französische Revue'en schon, an die ich Arbeiten einsenden kann, - natürlich thu' ich das deutsch, die Redaktion übersetzt sie. Noch ist Fräulein Krüger (die Dänin, weißt du) mit mir hier, aber bald reist sie schon fort. Von Mitte April an erwarte ich Mauthner und zum Mai Frieda von Bülow, die direkt von Afrika herkommt und wohl ein paar Monate bleibt. Während dieser Zeit habe ich mich wiederholt gefragt, wie es Dir wohl gefallen würde, wenn Ihr einmal herkämt. Paris ist als Stadt so prachtvoll, so voll von Glanz und Erinnerung, so merkwürdig und imposant zugleich, daß man sich schon eine Weile am rein äußeren Leben berauschen kann. Mehr noch, wenn man die Zeitungen und Journale liest, in denen hier die besten Schriftsteller des Landes mitpolitisieren, denn hier drängt und lebt alles nach außen hin, sozusagen auf der Straße und in den Erregungen des Tages, - die Persönlichkeiten werden zerrieben. Und alles beherrscht der ungeheure Contrast einer auf's Aeußerste raffinierten, überbildeten Gesellschaft des Luxus, und eines Elends, das sich fortwährend in revolutionären Stimmungen Luft macht, weil es um sich diesen Glanz sieht und von dieser großen Schönheit umgeben ist und dabei darben muß. Das alles ist von höchstem Interesse, aber um dieses Paris zu verstehen, muß man es schon bei Tag und bei Nacht, oben und unten; man muß auch, wie wir es gethan, mit zuverlässiger Herrenbegleitung, die Seitenstraßen und Winkel aufsuchen, den vierten Stand bei seiner Arbeit, seinem Vergnügen und seinem Laster beobachten, denn der vierte Stand ist hier die Zukunft. Das wirkt doppelt seltsam, wenn man von einer Schampagnertrinkenden Gesellschaft herkommt. Einstweilen verkehren wir hier in ein paar Ateliers, bei ein paar Verlegern, in einem Professorenhause und, mit Eröffnung der eigentlichen Salons, - die Saison fängt erst an, - will ich noch bei der Madame Adam und bei dem Conte d'Orval verkehren. Zwei ständige Herren habe ich mir als zuverlässig herausgefischt zur Begleitung für dies und das, ( - die Franzosen sind entsetzliche Leichtvögel) der Eine heißt Dr. Goldmann und vertreibt die Frankfurter Zeitung in Paris, ist praktisch, gewandt, erfahren, ruhig und umsichtig; der Andere Henri Albert, ein noch junger, etwas elegischer Elsässer, ist redacteur der Societé nouvelle. Von Frauen habe ich nur eine sympathische kennen gelernt, - die Französinnen sind gräßlich: eine Gräfin Nemethy, Ungarin von Geburt, von unserem Alter und von litterarischem Interesse. Ich werde dir bald mehr von Paris schreiben, laß mich oft wissen, wie es dir geht und bei euch steht, ja? Denke ja nicht, daß mein Nichtschreiben ein Nichdeinerdenken wäre, ich lebe nun auch gezwungener Weise nach außen. Von meinem Mann habe ich leidliche Nachrichten, von Mama auch; hier ist schon voller Sommer, Magnolien und Kastanien blühen in den Tuillerien und dem Bois de Boulogne. Für heute addio, Liebste, nimm Vorlieb! Grüße bitte deine Mama und sei innig abgeküßt von deiner Lou." - Vom 27. Februar 1894 bis September desselben Jahres weilte Lou Andreas-Salomé zum ersten Mal in Paris, ohne ihren damaligen Mann Friedrich Carl Andreas, von dem sie, wie sie hier schreibt, "leidliche Nachrichten" erhielt. Aus dem Brief geht hervor, welch immensen, aber auch zwiespältigen Eindruck Paris auf Lou machte, da sie sowohl die Großartigkeit der Stadt, als auch deren Armut wahrnahm. Bei der "zuverlässigen Herrenbegleitung", die sie erwähnt, dürfte es sich um Frank Wedekind gehandelt haben, den sie im Salon der Gräfin Nemethy kennenlernte. Die Begegnung mit Wedekind in Paris hat Lou Andreas-Salomé in "Fenitschka" literarisch verarbeitet. Verbürgt ist, dass sie den Dichter in den ärmsten Teil von Paris zu einem Besuch bei Georg Herweghs Witwe begleitete. "Lou Andreas-Salomé nimmt die Pariser Armut, deren groteske Gesichter Rilke nach ihr so tief erschrecken werden, gelassen, wie etwas Selbstverständliches. Etwas Selbstverständlichem geht man nicht aus dem Wege" (Decker, S. 178). Bei den beiden im Brief namentlich genannten Herren handelt es sich zunächst um Henri Albert (Henri-Albert Haug; 1869-1921), der Friedrich Nietzsche ins Französische übersetzte. Von Teodor de Wyzewa schon 1896 als "l'apôtre fidèle du nietzschéisme" bezeichnet, wurde Alberts Nietzsche-Deutung maßgeblich "von Lou Andreas-Salomé beeinflußt" (Reckermann, S. 7). Der zweite genannte Begleiter ist Paul Goldmann, Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris. Mit ihm verband Lou Andreas-Salomé ein inniges Verhältnis, auf Seiten Goldmanns wohl auch eine innige Schwärmerei, der er sich nicht gewachsen fühlte, weshalb Goldmann in seinem Abschiedsbrief am 26. September, kurz vor Lous Abreise, schrieb: "Ich hätte Ihnen nie als Herr gegenüberstehen können, und der Sklave einer Frau will ich nicht sein, selbst Ihrer nicht" (Decker, S. 187). Die hier gleichfalls erwähnte Afrika-Reisende, Abenteurerin und Schriftstellerin Frieda von Bülow, die Lou Andreas-Salomé im Mai in Paris erwartete, beobachtete die Affäre zwischen Goldmann und ihrer Freundin aufmerksam und nahm diese zum Anlass für eine Erzählung über Lou Andreas-Salomé und ihre männlichen Bekanntschaften mit dem Titel: die "Goldmanniade" (Decker, S. 182). - Vgl. Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 174 ff.; Alfons Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches, Berlin 2003, S. 7. - Mit kleinem Randeinriss in der Falte.zzgl. Versandkosten
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Göttingen, 30. XII. [ca. 1913], Kl.-4°. 4 Seiten. Doppelblatt.
An die Jugendfreundin "Misulka". Unter dem Einfluss der Freudschen Traumdeutung analysiert Lou die Träume der Freundin und weist dabei die Lehren von Freuds Zeitgenossen Eugen Kalkschmidt und Erich Wulffen rigoros zurück: "Liebste Misulka, ja auch Dir herzlich: s novym godom [kyrill.: gutes neues Jahr]! ich hab mich im alten noch halbtodt gearbeitet, aber es war wundervoll schön, und nun liegt um uns (freilich nur hier oben so weiß) mächtig dicker Schnee und alle Bäume stehen wie verzaubert. Möchte das neue Jahr Dir den lästigen Schwindel fortnehmen, möchte er auch nach der letzten Attaque neuerdings, ganz wieder vergangen sein. Dein Traum ist natürlich nicht nur eine Tanzwunscherfüllung von dunnemals, - davon bekommt man nicht noch Morgens strahlende Augen etc. Sondern, über ...An die Jugendfreundin "Misulka". Unter dem Einfluss der Freudschen Traumdeutung analysiert Lou die Träume der Freundin und weist dabei die Lehren von Freuds Zeitgenossen Eugen Kalkschmidt und Erich Wulffen rigoros zurück: "Liebste Misulka, ja auch Dir herzlich: s novym godom [kyrill.: gutes neues Jahr]! ich hab mich im alten noch halbtodt gearbeitet, aber es war wundervoll schön, und nun liegt um uns (freilich nur hier oben so weiß) mächtig dicker Schnee und alle Bäume stehen wie verzaubert. Möchte das neue Jahr Dir den lästigen Schwindel fortnehmen, möchte er auch nach der letzten Attaque neuerdings, ganz wieder vergangen sein. Dein Traum ist natürlich nicht nur eine Tanzwunscherfüllung von dunnemals, - davon bekommt man nicht noch Morgens strahlende Augen etc. Sondern, über das (in Deinem 'Nichtfortgehenwollen' gehemmter Beine, symbolisch Deiner Mama gegenüber) noch jetzt wirkende Sinnbild der 'Beine' erfüllt dies Tanzen eine viel tiefere Art der Wunscherfüllung im Leicht- und Freiwerden. Aber eben weil eine volle Wunscherfüllung, darum tritt es nicht auf als ein Wegtanzen von ihr, sondern ein Tanzen mit ihr (die zugleich als Tänzer & Tänzerin erscheint, weil weiblich und für Dich doch stets so sehr als der männlich stärkere Teil wirkend.) In diesem Tanz mit ihr vereint sich der emanzipatorische Drang nach eigner freier Leichtigkeit mit dem nach der Liebeserfüllung, mit den zartesten unbewußten Vereinigungsträumen, [Einweisung: eben darin liegt die Traum-Wunscherfüllung daß diese auseinandergehenden 2 Tendenzen sich liiren. Daß der Traum sich gerade dieses Lebens bedient, daß kommt natürlich von dem was du über das Tanzen in deiner Jugend erzählst.] (Tanzen ist überall Symbol dafür.) Du selbst sagtest ja, wie sehr grade Deine Mama solche Wünsche in Dir ungewollt hemmte, weil sie selber anstelle von Männern das Kindliche und spätere Liebesgefühl ablenkte. (Drum ist der tanzende Partner später 'todt', aber es macht Dir nichts, da alles sich bereits erfüllte. Und die Nachwirkung dessen machte den Morgen Dir noch im Wachen so froh.) Ich hab momentan keine Zeit, über dies nur ganz anfängliche Deuten hinauszugehen, es geht viel, viel weiter und tiefer. Achte mal gelegentlich auf Träume die Deinen Hals betreffen: ganz todtsicher spielt sich bei Dir in der Halsregion mindestens so viel ab wie an den Beinen. Das dachte ich schon längst. Das Singen bei Frl. R. ist ja doch eine Mutter-Uebertragung, beim Singen erlebtest du mehr als Gesangfreude. Der Kehlkopf ist dadurch reizbar in seinen Nerven (Katarrhe, und manchmal beim Essen die Idee das was hineingeraten ist). Was den Wulffen & Kalkschmidt anbetrifft, so erlaubt ja Freud stets wieder das Sonderbare, daß seinem Fach - diesem allerdunkelsten, am schwierigsten gerecht zu werdenden - Jedermann glaubt ein Kritiker werden zu dürfen, was man dem einfachsten anderen Fach gegenüber nicht ohne die speziellsten jahrelangen Studien antun dürfte. Den Sinn von 'pervers' so nach der geltenden Schablone zu verdrehen und zu banalisieren ist noch mehr dumm als nur naiv. Der Zusammenhang aller tiefsten Einsichtstriebe mit dem Trieb zur Mutter gilt nicht nur für Hamlet sondern für alle Menschengeborenen. Dir selbst würde genau das Hamletproblem passieren, solltest du von deiner Mutter wähnen daß sie deinen Vater umbrachte oder hinterging: weil deinem Haß und Abscheu unbewußt, ahnungslos, ein Hemmschuh beigegeben wäre in Gestalt des Gefühls für die Mutter (an Wulffen liegt nichts, aber insofern er Freud vertritt, ist von solchen Kritikern erst ein Wissen u. praktisch-wissenschaftliches Durchprüfen zu verlangen, ehe sie den Gelbschnabel auftun. Basta.) [...]". - Der vorliegende Brief, der auf das 1913 in der Forschung viel diskutierte "Hamletproblem" Bezug nimmt, steht ganz unter dem Einfluss der Psychoanalyse Sigmund Freuds, bei dem sie 1912 und 1913 studierte und dessen Mittwochs-Sitzungen sie besuchte. Lou Andreas-Salomé wendet sich entschieden gegen die Lehren Erich Wulffens, der 1913 ein Buch über "Shakespeares Hamlet: Ein Sexualproblem" veröffentlichte und darüber hinaus ein antiquiertes Frauenbild vertrat, wonach Frauen Wesen geringerer Intelligenz und Empfindsamkeit mit einer angeborenen (!) Disposition zur Prostitution seien. Im selben Maße ablehnend äußert sie sich gegenüber Eugen Kalkschmidts ebenfalls 1913 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse publizierten Studie über "Hamlet, ein Mutterproblem". Zwei Jahre später eröffnete Lou Andreas-Salomé als erste Frau überhaupt 1915 in Göttingen eine eigene psychoanalytische Praxis. - Vgl. Erich Wulffen, Shakespeares Hamlet. Ein Sexualproblem, Berlin 1913; Eugen Kalkschmidt, Hamlet, ein Mutterproblem, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 42, 18. Oktober 1913; Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 193, 267ff.zzgl. Versandkosten
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Ohne Ort und Jahr [München, Berlin oder Dresden, nach 1913], Qu.-Kl.-8°. 3 1/2 Seiten auf 2 Kartonblättern.
An die Jugendfreundin "Misulka", gleichsam ein psychoanalytisches Therapiegespräch in Briefform: "Liebe Misulka, herz-lichen Dank für Deinen lieben Brief, auch den von Paris habe ich nun über Göttingen empfangen. Ich muß noch eine Weile hier bleiben, aber darin hast Du Recht, daß ich hier nicht zu ordentlichen Beantwortungen kommen werde. Insofern tut es mir doch leid, daß wir über die fraglichen Dinge nicht mündlich mehr verhandelten, denn da ist eine halbe Stunde mehr, als monatelanger Briefwechsel. Weißt Du: die Fixierungen an ursprüngliche Kindesliebe-Object stehen ja immer hinter diesen Sachen so auch bei dir; darauf wird das spätere Erleben gewissenmaßen scheinbar, läuft länger ab, als gleichsam nur markierte Erinnerung im tiefsten Grund ist ja alles überhaupt stets ...An die Jugendfreundin "Misulka", gleichsam ein psychoanalytisches Therapiegespräch in Briefform: "Liebe Misulka, herz-lichen Dank für Deinen lieben Brief, auch den von Paris habe ich nun über Göttingen empfangen. Ich muß noch eine Weile hier bleiben, aber darin hast Du Recht, daß ich hier nicht zu ordentlichen Beantwortungen kommen werde. Insofern tut es mir doch leid, daß wir über die fraglichen Dinge nicht mündlich mehr verhandelten, denn da ist eine halbe Stunde mehr, als monatelanger Briefwechsel. Weißt Du: die Fixierungen an ursprüngliche Kindesliebe-Object stehen ja immer hinter diesen Sachen so auch bei dir; darauf wird das spätere Erleben gewissenmaßen scheinbar, läuft länger ab, als gleichsam nur markierte Erinnerung im tiefsten Grund ist ja alles überhaupt stets Wiedererinnerung. Bei dir kommt aber noch in Betracht der Um-stand der Mutterfürsorge und Abhängigkeit während der Jahre wo du nicht gehen durftest, daher wurde seit dem Tode deiner Mutter, in der befreitern Unabhängigkeit, dein Gehen Symbol für Fortgehen von ihr, - nicht, weil sie starb, sondern weil es deiner Sehnsucht entsprach; diese Sehnsucht einerseits, andrerseits die nach ihr sich zurücksehnende Liebe, entsprachen einem Zwiespalt, der seit 12 Jahren, seit ihrem Kranksein, sich in Unsicherheit beim Gehen, Platzfurcht etc ins Körperliche übersetzte. Sofern eine kleine Herzerweiterung beim Schwindel im Spiel ist, ist sie doch von solchen Anlässen (wo keinerlei Anstrengung vorangeht, wohl aber eine Aenderung etwa in der Belichtung oder im Straßeneindruck, also irgend ein Sich-Orientieren zu müssen oder ein Sich-suchen-fühlen zu sollen) zu unterscheiden: das ist ja nur ein körperlicher Anlaß, eine bloße Gelegenheit, zum an sich nervösen Symptom. - Die Dinge, die mit dem 'Sehen' zusammenhängen, sind ganz außerordentlich bedeutsam für alle Symptome von Abhängigkeits- und analogen Zwiespalten. Aber es geht praktisch nicht, sich schriftlich über dergleichen zu unterhalten. So will ich dir adjüs sagen und viele herzliche Grüße, von Ellen, und einen dicken poseluy [kyrill.: Kuss] von Lou." - Datiert werden kann der Brief sicher auf die Zeit nach 1913, also nach dem Ende des Studiums der Psychoanalyse in Wien, möglicherweise sogar auf das Jahr 1913, da es aus diesem Jahr weitere Briefe an "Misi" ähnlicher Thematik gibt. Als Ort lässt sich München vermuten, wo sie 1913 am 5. Psychoanalytischen Kongress teilnahm, oder auch Dresden, wohin Lou Andreas-Salomé nach dem Kongress mit Rilke reiste (Decker, S. 357). - Vgl. Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 193 und 357. - Die erste Seite mit Klammerspur.zzgl. Versandkosten
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Ohne Ort und Jahr [wohl aus Berlin, 1882-1885], Kl.-4°. 6 Seiten. 1 Doppel-, ein einfaches Blatt.
An die Jugendfreundin "Misi". Äußerst seltener, früher Brief der noch jungen, unverheirateten Lou von Salomé, die erst 21-jährig von 1882 bis 1885 mit Paul Rée in Berlin in einer Wohngemeinschaft lebte. Reich an Anspielungen auf ihre eigenen literarischen Pläne und den sogenannten Berliner Kreis, der in der frühesten Phase der gesellschaftlichen Nietzsche-Rezeption in Berlin eine zentrale Rolle spielte: "Sonntag [Randnotiz in Bleistift, dann weiter in Tinte:] Liebste Misi, Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie trotz aller Familien- und Verlobungs-Festlichkeiten, Muße für mich fanden. Es ist schön, daß Sie jetzt so heiter leben, sogar in Röhrig seine Kunst eingreifen, was ich ihm schon erzählt habe und wozu er Ihnen, etwas vom Olymp seines Genie's herab, viel Glück wünscht. ...An die Jugendfreundin "Misi". Äußerst seltener, früher Brief der noch jungen, unverheirateten Lou von Salomé, die erst 21-jährig von 1882 bis 1885 mit Paul Rée in Berlin in einer Wohngemeinschaft lebte. Reich an Anspielungen auf ihre eigenen literarischen Pläne und den sogenannten Berliner Kreis, der in der frühesten Phase der gesellschaftlichen Nietzsche-Rezeption in Berlin eine zentrale Rolle spielte: "Sonntag [Randnotiz in Bleistift, dann weiter in Tinte:] Liebste Misi, Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie trotz aller Familien- und Verlobungs-Festlichkeiten, Muße für mich fanden. Es ist schön, daß Sie jetzt so heiter leben, sogar in Röhrig seine Kunst eingreifen, was ich ihm schon erzählt habe und wozu er Ihnen, etwas vom Olymp seines Genie's herab, viel Glück wünscht. Gewiß ist das die beste Art soviele Braut-Aufnahmen mit stets denselben Menschen zu beleben. Wie gerne hülfe ich Ihnen am humoristischen Prolog, wenn ich nur selber eine Spur von Talent zu humoristi-schen Gelegenheitsdichtungen besäße! Sie sollten sich Dr. Grube dazu engagiren, das wäre am schönsten! Aber über alledem werden Sie doch nicht vergessen, in das Ausland zu reisen? Das möchte ich mir schön verbitten! - Ich kann mir denken, daß es mit Emotionen verbunden sein muß, seine Jugendgespielin einem fremden Manne fortzugeben, - von den meinen hat sich keine verlobt, aber wir werden wohl beide das Schicksal erleben, in unserer gänzlichen Unverheirathetheit unseren Freundin-nen nachzuschauen!! Wissen Sie, liebe Misy, dann wollen wir uns auf die alten Tage zusammenthun, ich glaube wir kommen sehr gut zusammen aus. - Gerade jetzt ist es manchmal, als würden manche ganz vergessenen und phantastischen Ideen aus meiner Backfischzeit in mir wach, die mir Lust machen, die alten von Emma aufgestöberten Gillotpredigten, bei denen ich ihm so oft half, durchzulesen. Ich wünschte einst so sehr, Prediger zu werden. Nun werden von einem sehr lieben Freund, Dr. Göring, großartige Pläne in Schweden realisiert, bei welchen er heiß wünscht, mich in einer wunderschönen Predigertätigkeit dort zu sehen. [Einweisung: Sprechen Sie aber nicht von diesen intimen Ergüssen. Dies ganz unter uns; es ist auch nur erst eine abenteuerliche Idee, aber sie verfolgt mich bis in meinen Schlaf. Auch Sie wären dort am Platz.] - o so sehr! Ich habe das unbeschreibliche Glück gehabt diesen außerordentlichen Menschen in den letzten Monaten unseres Umgangs durch Freundschaft und Zuspruch über ein sehr trauriges Schicksal hinweghelfen zu dürffen; in kurzer Zeit verliere ich ihn schon, aber ich denke nicht auf lange. - Von dem Gedicht Menschenliebe, welches Sie bei Emma lasen, ist die letzte Strophe damals schlecht gelungen und lautet, in ihrer bessern u. den Gesammtgedanken nicht mehr so subjektiv sondern präciser wieder gegebenden Form so: Drum, treibt es dich Menschen liebend zu umfangen | Nimm sie nachsinnend auf; - in ein Gemüth | Das ihnen mild begreifend nachgegangen | Und ihres Wesens Tiefen an sich zieht; | Bis es daß einzige Gebot nur übe: | Was Mensch heißt, das bleibt werth der Menschenliebe. Beiliegend ein paar neuere Gedichte, da Verse Ihnen Freude machen. Ich dichte jetzt oft so für mich hin. Lesen Sie doch die herrlichen Nibelungen von Jordan, beide Theile. An den anfangs befrem-denden Stabreim gewöhnt man sich schnell. - Aus meinen Erlebnissen mit G. machte ich eine Art Stimmungsnovelle, mit unverändertem Schluß, deren 3 Abschnitten lauten: Das Märchen. Der Roman. Die Wirklichkeit. Natürlich ist es nur für mich, kann und darf nie, auch in keiner Veränderung, gedruckt werden. In diesen Tagen reist Rée zu den Ferien heim, im April reist Göring fort, dann bin ich trotz der übrigen Freunde recht einsam und erwarte Sie um so sehnlicher. Röhrig macht uns charakteristischerweise am meisten Freude, wenn er Gedichte liest, z.B. Freiligraths Mohrenfürsten und neulich den herrlichen Gefangenen von Chillon von Byron. Für das Heroische klingen keine Saiten in seinem Charakter an; er ist nicht aus dem Stoff aus dem das Leben seine Helden und Märtyrer schneidet. In diesen Tagen sehe ich mit ihm Rossi spielen. Staatsanwalt Heinemann hat um eine Versetzung nachgesucht; er kommt als Ersterstaatsanwalt nach Göttingen. Unser Ver-kehr ist sehr still geworden. Noch ein paar Winter und ich suche die tiefste Stille auf um für einige Zeit nur dem Versuch zu leben, ob ich aus all dem, was ich intensiv lebte und dachte, nicht etwas schaffen kann. Aber dann, wenn mir dies gelungen sein sollte, suche ich kein neues Erleben in einem Dasein wie ich es jetzt führe, sondern in einem großen, praktischen Kultur-Unternehmen, wie dasjenige für welches Göring Gut u. Blut einsetzt. Wie wenig liegt am blos Intellektuellen! Wenn es ginge, würde ich diesen Sommer am liebsten im Juli ein schönes Weilchen mit Ihnen und Emma in Wiesbaden sein, dann Gillots lieben Jungen in Carlsruhe besuchen u. mit einem römischen Freunde der herüberkommt, Professor Schumann ein rendez-vous haben, um dann den Herbst an der schwedischen Grenze mit Göring u. seinen Freunden zu verbringen. Es ist zu schade daß Sie ihn nicht mehr kennen lernen. Für heute muß ich wohl meine sehr flüchtige Kritzelei wohl schließen, schreiben Sie mir doch wann Sie kommen, und ob Sie von Schwalbach nach Wiesbaden gehen. Ich freue mich auch sehr, Sie in mein behagliches, kleines Heim zu führen. Bei Grubes geht es besser, der böse Husten läßt nach; die ganze Zeit über mußte Willy Grube zu Hause sitzen, und langweilte sich sehr. Herzlich Ihrer gedenkend liebe Misy, Ihre Lou" - Die hier mehrfach erwähnten Wilhelm Grube, ein aus Petersburg stammender Sinologe, und Hugo Göring, der 1924 über seine 'Begegnung mit Nietzsche' schrieb, waren zwei der Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen des Berliner Kreises, den die "Exzellenz" Lou von Salomé und die "Ehrendame" Paul Rée um sich versammelten. "Friedrich Nietzsche war noch nicht allen bekannt: 'Dennoch stand er, gleichsam verhüllten Umrisses, in unsichtbarer Gestalt mitten unter uns'" (zit. nach Reschke/Brusotti, S. 445). Zu den "übrigen Freunden" zählten u.a. Hans Delbrück, Paul Deußen, Hermann Ebbinghaus und Max Heinemann ("Ersterstaatsanwalt nach Göttingen"). Bedeutsam ist die mehrmalige Erwähnung von Emma Wilm (verheiratete Flörke). Sie war eine Nichte der Mutter Louise von Salomé (geb. Wilm), Lous Lieblingscousine, lebenslange Vertraute und offenbar zugleich, darauf deutet der Brief hin, eine Freundin oder Bekannte der Adressatin des vorliegenden Schreibens. Lou von Salomé erinnert sich darin weiter an die prägende Bekanntschaft mit dem protestantischen Pastor der Niederländischen Gesandtschaft in St. Petersburg, Hendrik Gillot. Der 25 Jahre ältere Theologe, der eine Tochter und einen Sohn ("Gillots lieben Jungen in Carlsruhe") in Lous Alter besaß, unterrichtete sie in philosophischen, literarischen und religiösen Themen. Die Verbindung zerbrach, als er dem jungen Mädchen einen Heiratsantrag machte und ankündigte, seine Frau zu verlassen ("aus meinen Erlebnissen mit G."). Schlussendlich erwähnt sie ihre persönlichen literarischen Pläne ("ob ich aus all' dem, was ich intensiv lebte und dachte, nicht etwas schaffen kann"). Nur wenig später setzte Lou von Salomé diesen Plan in die Tat um und veröffentlichte 1885 unter dem Pseudonym Henri Lou ihr erstes Buch "Im Kampf um Gott". Die Kritiken waren gut, das Pseudonym schnell durchschaut, und der Erfolg machte Lou, seit 1887 Andreas-Salomé, bekannt. - Renate Reschke, Marco Brusotti (Hrsg.), "Einige werden posthum geboren": Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin 2012; Kerstin Decker, Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke ich, Berlin 2015, S. 193, 355 ff. - Kleine Einrisse in der Knickfalte; Klammerspur am Oberrand.zzgl. Versandkosten
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brieffragment mit Unterschrift „Lou“. Ohne Ort und Jahr [Oberwaltersdorf, 1901], Kl.-Fol. 4 Seiten. Bleistift. Doppelblatt.
Schluss eines intimen Briefes an die Jugendfreundin Misulka mit zahlreichen Hervorhebungen. Die Anspielungen im Text verweisen auf das Jahr 1901, das sie mit Friedrich Pineles im niederösterreichischen Oberwaltersdorf verbrachte, wo die junge Schwangere nach einem Sturz vom Apfelbaum eine Fehlgeburt erlitt. Über irdische und platonische Liebe, über leibliche und geistige Mutterschaft. Lou Andreas-Salome stellt hier letztlich, kurz nach dem Bruch mit Rilke und dessen "Verbannung" nach Worpswede im Jahr 1900, die inspirierende Liebe der Muse über die körperliche Liebe, die intellektuelle Schaffenskraft der gleichberechtigten Partnerin über die geschlechtliche Anziehung zwischen Männern und Frauen: "[...] liegt ganz bestimmt in unserm Zustand; ich erlebe es hier oder an mir selbst, ...Schluss eines intimen Briefes an die Jugendfreundin Misulka mit zahlreichen Hervorhebungen. Die Anspielungen im Text verweisen auf das Jahr 1901, das sie mit Friedrich Pineles im niederösterreichischen Oberwaltersdorf verbrachte, wo die junge Schwangere nach einem Sturz vom Apfelbaum eine Fehlgeburt erlitt. Über irdische und platonische Liebe, über leibliche und geistige Mutterschaft. Lou Andreas-Salome stellt hier letztlich, kurz nach dem Bruch mit Rilke und dessen "Verbannung" nach Worpswede im Jahr 1900, die inspirierende Liebe der Muse über die körperliche Liebe, die intellektuelle Schaffenskraft der gleichberechtigten Partnerin über die geschlechtliche Anziehung zwischen Männern und Frauen: "[...] liegt ganz bestimmt in unserm Zustand; ich erlebe es hier oder an mir selbst, ebenso auch eine gewisse wüthende Reizbarkeit - schade, daß Du Deinem ausgeschimpften Schwiegersohn das nicht mitteilen kannst!! Ich bin stets sehr froh, wenn ich dann Jemanden zu fassen kriege, an dem ich diese 'physiologische' Wuth ausbullern kann, denn ich behalte dergleichen für nichts in der Welt gern im Magen. Es fügt sich aber nicht stets so gut, denn es gehört dazu allerlei: man muß Jemanden ziemlich gern haben um das so recht loszuwerden, es ist insofern gewissermaßen nicht ohne Schmeichelei für ihn. - Aber abgesehn davon ist es über-haupt so eine Sache mit dem Leben 'mit Andren' speziell in unserer 'Verfassung'; ich weiß nicht, ob es dir auch so geht und ob es vielleicht Mitschuld trug an den Königsberger Schattenseiten; ich kann jetzt ganz plötzlich, obgleich alles stimmt und mich an einem Beisammensein freut, das Ganze momentan nicht mehr mögen, [Einweisung: oder, besser gesagt: nicht mehr in seiner Nothwendigkeit würdigen]. Ich nehme an, es findet da ein Kampf statt zwischen der noch vorhandenen enormen Illusionskraft die zu aller Glücksstimmung gehört, und der Schärfe des Blicks, die zu früh einsetzt. Ehemals trennten die Beiden sich zeitlich bei mir, - ich nahm sogar Dinge ins Bewußtsein auf, die ich mit dieser Blickschärfe später - kritisch oder psychologisch-künstlerisch - verwerthete, aber im Moment des Erlebens schaltete ich sie selbstbewußt aus. Es könnte doch sein, daß Dir jetzt mitten in der Freude an Deinen 'Kindern', Alles Für und Wider, woran es niemals & nirgends fehlte, zu ausführlich zum Bewußtsein käme. Das ist ja wahrscheinlich der Vortheil der ganz tief & körperlich fundirten Verhältnisse wirklicher Mutterschaft oder wirklicher Gattenliebe, daß sie gleichviel wie kritisch gestimmt man sei, nicht absolut in Frage gezogen werden können. Aber dafür, glaube mir, hätten sie auch etwas so kolossal Lastendes, zu Boden Ziehendes in solchen Momenten, weil man sich ihrer letzten Thatsächlichkeit nicht entledigen kann. Genießen kann man nur - das gehört zu meinen unumstößlichen Überzeugungen, - nur, was man mit einem Fuße draußen stehend ausschöpfen kann. Dies ist nämlich der berühmte Punkt um die Welt aus den Angeln zu heben, - der Punkt außerhalb. Alles andere wirkt gelegentlich als Sargdeckel, erdrückt, macht todt. Ich wär sogar von diesem Standpunkt aus für den Jenseitsglauben: um das Diesseits vollaus genießen zu können, - was die Leute, die aufs Diesseits allein gestellt sind, nicht recht zuwege bringen aus eben dieser aufregenden drinfestklebenden Ausschließlichkeit des Verhältnisses. - Wir müssen durchaus das Schöne wahrnehmen, was für uns drin liegt, daß wir mit zarteren Sohlen über die Erde gehn als die Mütter und altmodischen Gattinen. Nur so werden wir auch etwas anderes zu geben haben als sie, - natürlich nichts Werthvolleres, aber doch was Ergänzenderes. Deine platonische Mutterschaft ist was Selteneres als die irdische, denn um sie zu ermöglichen gehören viel seltenere Zufälle zusammen. Grob gesprochen könnte man sagen: von der Menge Samen die in eine weibliche Gebärmutter geräth, wird irgend ein Samenfädchen, je nach seiner besten Lage dort, fruchtbar mit dem Ei; - aber wie ganz anders tief begründet ist es, welch ein Mensch unter den vielen die in unser Bewußtsein gerathen, im platonischen Sinne uns zum 'Kinde' wird. Um genau ebensoviel sind wir der irdischen Mutter über wenn wir sie auch am faktisch Schöpferischen nicht erreichen, so schaffen wir doch durch diesen Punkt etwas, was noch nicht war. Verzeih diese Ergüsse! nicht wahr, ich darf doch sicher sein, daß du sie stets verbrennst? Inniger Schmatz! Deine Lou". - Wolf Scheller schreibt über die Beziehung zwischen Pineles und Lou Andreas-Salomé: "Schon kurz nach der Trennung von Rilke hatte sie den Kontakt mit Pineles wiederaufgenommen, eine 'eheähnliche' Verbindung, die vorwiegend sexueller Natur war. Nach der ersten Euphorie - so behaupten jedenfalls Ursula Welsch und Michaela Wiesner in ihrer Lou-Biographie - sei ihr der Charakter dieses Verhältnisses klar geworden: 'Ihr wurde bewußt, daß sie kein Kind von ihm wollte, [...] da es für sie offensichtlich unmöglich war, sexuelle und seelische Übereinstimmung in einer Beziehung miteinander in Einklang zu bringen [...]'. Einen Beweis für diese These gibt es nicht. Tatsache ist lediglich, daß Lou Friedrich Pineles in ihrem 'Lebensrückblick' mit keinem Wort erwähnt. Ernst Pfeiffer, der Herausgeber ihres Nachlasses, berichtet, sie habe sich dieser Beziehung in gewisser Weise geschämt." - Wolf Scheller, Die Mitdenkerin. Ein Porträt der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé, Heidelberg 2010, S. 8. - Klammerspur am Oberrand.zzgl. Versandkosten
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „LAS“. Göttingen, 17. VI. 1933, Qu.-Gr.-8°. 1 Seite. Doppelblatt. Bleistift auf kariertem Papier. Mit eigenhändigen Umschlag und vollem Namsnzug als Absender.
An die Literaturwissenschaftlerin Annette Schweizer aus Sissach in der Schweiz: "[...] wie Rilke sich gefreut hätte über so innige Liebe zu manchen seiner Werke, so freue auch ich mich Ihrer Einstellung zu ihm. Aber einander darüber brieflich reden, ist nicht recht durchzuführen. Ihr eigenes Wachsen und Reifen wird schon selber dazu tun, dass allmählich auch die tiefreichendern Werke von ihm Erlebnis werden für Sie. Noch eins kommt hinzu, wodurch es mir nicht ganz leicht wird, Sie zum Schreiben an mich zu ermuntern: nämlich Ihre Handschrift. Nur mit grosser Mühe lässt sie sich ja entziffern [...]" - Einriß im Respektblatt. - Sehr selten.An die Literaturwissenschaftlerin Annette Schweizer aus Sissach in der Schweiz: "[...] wie Rilke sich gefreut hätte über so innige Liebe zu manchen seiner Werke, so freue auch ich mich Ihrer Einstellung zu ihm. Aber einander darüber brieflich reden, ist nicht recht durchzuführen. Ihr eigenes Wachsen und Reifen wird schon selber dazu tun, dass allmählich auch die tiefreichendern Werke von ihm Erlebnis werden für Sie. Noch eins kommt hinzu, wodurch es mir nicht ganz leicht wird, Sie zum Schreiben an mich zu ermuntern: nämlich Ihre Handschrift. Nur mit grosser Mühe lässt sie sich ja entziffern [...]" - Einriß im Respektblatt. - Sehr selten.zzgl. Versandkosten
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Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Ohne Ort und Jahr [wohl aus München, kurz nach dem 2. Mai 1919], Kl.-4°. 2 Seiten.
An die Jugendfreundin "Misulka", unmittelbar nach dem Tod Gustav Landauers in München am 2. Mai 1919. Der Brief be-ginnt ohne Anrede: "Pack! Pack, das sich schlägt, sich verträgt und und erst die Toten endgültig tötet indem es über sie weg-lebt. Wir müssen so tun, aus primitivster, feigster Selbsterhaltung, aber auch daraus schneiden wir uns schönste Phrasen, diese widerlichste Draperie des gierigen und ungroßmütigsten Thieres Mensch. Deine kleine russische Bekanntschaft wog gewiß den Tratsch vieler Anderer auf. Möchte jetzt Dein Fräulein so erholt wiederkommen, daß sie Dich umsorgen kann. Ich bin froh, dich von einem, wenn auch zusammengeschmolzenen Gelde sagen zu hören, denn das russische ist doch wohl hin? Meines ganz, und meines Mannes Bischen aufgegessen, (wörtlich zu ...An die Jugendfreundin "Misulka", unmittelbar nach dem Tod Gustav Landauers in München am 2. Mai 1919. Der Brief be-ginnt ohne Anrede: "Pack! Pack, das sich schlägt, sich verträgt und und erst die Toten endgültig tötet indem es über sie weg-lebt. Wir müssen so tun, aus primitivster, feigster Selbsterhaltung, aber auch daraus schneiden wir uns schönste Phrasen, diese widerlichste Draperie des gierigen und ungroßmütigsten Thieres Mensch. Deine kleine russische Bekanntschaft wog gewiß den Tratsch vieler Anderer auf. Möchte jetzt Dein Fräulein so erholt wiederkommen, daß sie Dich umsorgen kann. Ich bin froh, dich von einem, wenn auch zusammengeschmolzenen Gelde sagen zu hören, denn das russische ist doch wohl hin? Meines ganz, und meines Mannes Bischen aufgegessen, (wörtlich zu nehmen,) und in Zukunft wegen Schulden Armut. Das Schlimme ist, daß jetzt auch buchhändlerisch auf lange hinaus nichts zu wollen ist. Aber es leiden keine Kinder darunter. Wenn ich das dürfte, - nicht bloß finanziell, auch mit einer Million: Kinder haben -. (In München sah ich Kleine buchstabie-ren, an den roten Plakaten: 'Standrecht', und über den geschlachteten Gustav Landauer, meinen Freund.) Auch was jetzt jung ist, hat es arg. Seien wir dankbar, Misulka, für unsere grauen Haare, - für nichts geb ich das vergangene Leben weg. Da hast Du nun eine Brüllerei ohne Methode; ich sitze dabei splitterfasernackt in diesem julihaften Wunderwetter auf meiner dazu hergerichteten Veranda, die wie ein Nest oben in Lindenwipfeln ist. Um 6 früh und um 6 Abend wandere ich mehrstündig mit einer kleinen weißen Terrierin, die Tsada heißt; mein männliches liebes, liebes Terrierlein, lebte nur - einen Krieg lang. Mißdeute nichts draus, wenn ich künftig nur wieder Karten schmeiße. Mir ist Briefschreiben furchtbar. Brieflesen um so wohltuender. Nun potseluy [russisch: Kuss], Misy, ich küsse dich. Deine Lou. Hör mal: soeben reiste Martha Burger pracht-voll nach Königsberg: diese Strecke noch garnicht überbesetzt und bequem wie sonst." - Lou Andreas-Salomé kommentiert die finanziellen Folgen der Oktoberrevolution in Russland 1917, samt dem "zusammengeschmolzenen" Vermögen, sowie vor allem die Geschehnisse um die Münchener Räterepublik und den Tod Gustav Landauers ("meinen Freund"). Gustav Landauer (1870-1919), als einer der wichtigsten deutschen Anarchisten und Pazifisten an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt, wurde nach deren gewaltsamer Niederschlagung von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten ermordet. Lou weilte zu dieser Zeit in München, wo sie ein letztes Mal mit Rilke zusammentraf (Decker, S. 357). Ihre Formulierung "Kinder!" nimmt Bezug auf die 1901 erlittene Fehlgeburt während ihrer Beziehung zu Friedrich Pineles. - Vgl. Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 357; Stéphane Michaud, Zensur und Selbstzensur in Lou Andreas-Salomés Autobiographischen Schriften. In: Brockmeyer/Kaiser (Hrsg.), Zensur und Selbstzensur in der Literatur, Würzburg 1996, S. 157.zzgl. Versandkosten