Beschreibung
Großartiger inhaltsreicher Brief; zugleich eine unbekannte Quelle zur Rezeptionsgeschichte von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (4 Tle., 1795-96) und zu Zelters Vertonung der dort enthaltenen Gedichte. An ihren späteren Mann Carl Friedrich Zelter. Julie Pappritz war Kammerdame und Begleiterin der Prinzessinnen Friederike (1778-1841) und Luise: „Lieber Zelter! Wenn ich auch noch so lange auf recht ausgesuchte Worte sinnen wollte, die Ihnen meinen Dank für Ihren mir so sehr lieben Brief sagten, so wären es doch nur immer Worte denn, zum wenigsten ist es mein Fall, wenn meine Freude überschwänglich ist, kann ich sie selten ausdrücken, überzeugen will ich sie durch meine prompte Antwort und durch einen langen Brief wie lieb mir Ihr Schreiben war. Sie haben sehr recht, wenn sie sagen, daß ich wohl Zeit genug haben müße, und selbige auch wohl zum schreiben zum Theil anwenden könnte, aber ich mache hier die Erfahrung, daß man Zeit und guten Willen in Menge und Überfluss haben, und dennoch weder Zeit noch Willen haben darf sie zu nützen. Sie müßen mir zugeben, dass wenn man schreiben will, muß man haben: Dinte, Papier, Feder, einen kleinen Raum wo man diese Sachen legt, einen Tisch einen Stuhl und vor allen Dingen muß man sich hüten damit keinem hinderlich zu werden, kurzum man muß geduldet werden, wenn man nun durch Schreiben saures Gesichte gekriegt, so muss man sich, in dem Verhältnis wie ich bin danach richten und nicht schreiben. Nun soviel zu meiner || Entschuldigung. Heut habe ich alles herbei geschaft und habe Muth mich über alles weg zu setzen. In 14 Tagen vieleicht noch früher denke ich wieder in Berlin bei Ihnen zu seyn und Z. zu singen, ich hoffe Fasch soll sich unterdeß erhohlt haben, und denn versichern auch vorderhand nicht wieder auf die Schule zu laufen. Über die conspiration von der Sie mir sagen, betrübe ich mich mehr als Sie vieleicht glauben. Ob ich mir wohl reines Herzens weiß, und mit einem guten Gewissen Ihnen lieber Zelter, und Herrn Fasch unter die Augen treten kann; so weiß ich nicht, es kömmt mir vor, als glaubten Sie, ich gehöre auch mit unter den Stillschweigenden die daran Theil nehmen. Ich sollte zwar meinen, Sie würden mir mit ihrer gewissen Aufrichtigkeit die Sie, mir als Freund immer lieber macht, sagen, wenn ich thäte wie ich nicht sollte, auch nehme ich ja so lange zu meinem Leidwesen keinen Theil an der Academie und daher kömmt es mir auch unwahrscheinlich vor, aber lese ich Ihren Brief und die Stelle, gleich ist mir, als gehörte mir davon ein tüchtiger Hieb. Ich irre vielleicht und dann werden Sie mich beruhigen, sind Sie eben in der Meinung als hätte ich gefehlt: Sie wißen ja, ich dächte || Sie kennten mich – wie gern ich mich von Ihnen belehren, wie gern mich von ihnen zurecht weisen laße. – Wenn man eine kleine Abschrift der Fabel von F: denen Beleidigten könnte zukommen lassen; daß sollte ich denken würde seine Würkung nicht verfehlen. Ich finde die Aufführung von den Herren recht ausverschämt, ordentlich pöbelhaft und bin Ihnen daher recht bös, woraus sie sich wohl nichts machen werden. – Wohl beneide ich Sie, in so fern ich Sie beneiden kann, um das gewiß große Vergnügen von [Wilhelm] Meister den 3ten Theil zulesen zu haben. Die beiden ersten Theile sind so lange ich hier bin mein Trost und mein Vergnügen gewesen, ich kann wohl sagen, mein einziges Vergnügen. Ich habe täglich drinn gelesen und mich immer mehr und mehr daran gefreut. Ich dank Ihnen für die gute Meinung die sie von mir hegen, gewiß können Sie wohl ruhig über mich seyn, mich solls nicht verführen, kann auch so eigentlich nicht begreifen wie man sich soll verführen lassen und gewiß ist derjenige dem dies Buch schädlich ist, keines reinen Begrifs von Tugend mehr fähig. Ich freue mich über mich selbst, daß ich fähig bin Ihr Urtheil über dies Buch zu verstehn, und dass es mir einleuchtet als ob ich’s selbst so gedacht so gesagt hätte.|| Über alles freut mich Ihr Lied vom Harfner [‚Wer nie sein Brod mit Tränen aß‘] und zwar darum, weil ich es vom Anfang, da ich das Buch las und damahls kränklich und ungelücklich die Worte doppeltes interesse für mich hatten, und wie oft des Tags hier mit mir selbst sprach, hier wo ich das Buch und die Worte wieder finde, nehme ich mirs gewiß vor, Sie bei meiner Zurückkunft um eine Musik zu bitten die mir lieber werden sollte als Rt: und siehe da, welche Überraschung da ich heut es erhalte. Rein vielen Dank sage ich Ihnen dafür, zwar muß ich noch wie mein eigner Tantalus die Noten ansehn, ohne zu singen, weil ich weder Instrument noch Stimme habe, lernen will ichs und ich hoffe zu Ihrer Freude. An Mühe und Lust wird es gewiß nicht fehlen. Es wird mir sauer werden bis Michaelis [29. September] auf Meister zu warten, machen sie sich nur gefaßt, daß ich Ihnen viel fragen werde. Ich bin recht begierig auf die Fortsetzung. Erhält man mehr Licht über den Harfner? Was wird aus Mignon? Und wo geräth Wilhelm hin? Wo bleibt Philine? Ach, wie viel möchte ich noch fragen. || Was die Geselschaft im Meister betrift, so bin ich Ihrer Meinung recht sehr, daß sie beiweilen den Vorzug für unsere langweiligen Cirkel hatt, die nur einen anderen Nahmen führen, als Comedianten, gewiß aber bei näherer Untersuchung, nicht ein mal so gute Menschen seyn mögen als diese bei all ihrer Thorheit dennoch sind. Philine mit allen ihren Tollheiten, Leichtsinnigkeiten, Thorheiten und auch wohl Unanständigkeiten, die man nicht leugnen kann zu entdecken, ist doch liebenswürdig, interessant, und zeigt sich edel sogar beim Krankenbett von Wilhelm – ich möchte sie weder mir, noch jungen Töchtern zum Muster aufstellen, aber lieben kann ich sie doch, und sie ist mir in der wirklichen Welt mit ihrer Natur noch lieber als jene, die Sie zur Dirne von der Academie ernant und die auf den Brunnen die Aristocratin spielt und je nachdem es Zeit und Umstände mit sich bringen einmal wieder wechselt. Des habe ich nun gottlob so genug, diese Brut von Menschen daß sie mich nur anekeln. Ihrem Rathe folge ich gern und lese auch Hamlet, ob gleich er mir sehr gegenwärtig ist, denn diesen Winter habe ich ihn erst durchlesen. || Dies sind Stücke die einem nur lieber werden je mehr man mit ihnen bekannt wird so wie mit würklich guten Menschen. – Ihre kleine bündige und kräftige Rezension von Romeo und Julie ist mir sehr interessant und ist mir deutlich geworden, weil ich alle die Arien und überhaupt den Inhalt des Stücks kenne, von Schäckspier kenne. Was Sie mir von der [Margarete Luise] Schick [Sängerin, 1773-1810] ihrem seyn sagen, freut mich und schmerzt mich, daß sie eine schöne Stimme hatt, mit der sie viel machen kann, habe ich in der Iphigenie [von Chr. W. Gluck] gehört, aber daß thut mir leidt, daß sie glänzen will, freilich sollte man es bei nah gewohnt seyn, ich kanns aber doch nicht leiden. So einfach die Idée von Faschens Fabel ist, so sehr hatt es mich überrascht und erfreut, und ich kann Ihnen wohl sagen, daß ich mich mit großem Vergnügen als Punct in dieser Art denke, wo alles würkt und mein ich, doch auch mitwürkt. Ists eignes Gefühl von Schwäche, ists Bewußtsein, daß ich nur felerhaft selbst allein würken könnte? Für mich ist der gedanke frölich und schön, gemeinschaftlich mit zu würken, und so bleibe ich gewiß gern im || Kreise stehn ohne daß mir der Gedanke kommen wird, heraus zu treten. Man kennt sich freilich selbst am wenigsten, mich aber dünkts ich habe keinen besonderen Hang mich zu produziren, Sie werden mir vieleicht ganz richtig sagen, daß man mir mit Solo immer entgegen kömmt, nun ja hier wäre es also keine Kunst, wie oft aber hätte ich Gelegenheit gehabt mich hören zu laßen, und nur widerstrebte mein Herz, selbst in der Zeit wo ich glaubte es könne mir nützlich seyn, und mirs an Beifall, den ich nur Ihnen zu danken hatte nicht fehlte, niemals hatts mich gefreut, ich kanns Ihnen wohl sagen. – Nimmer mehr wird mein Herz und meine Gesinnung mich dazu bringen, von meinem Talent gebrauch zu machen, wenn mir die Vernunft nicht dazu räht, auf eine auf eine bequeme Art mein Brod zu verdienen, wenn der Fall als nothwendig für mich eintrit. – Ach es ist so schrecklich das Vergnügen was man andern macht, sich mit Geld bezahlen zu laßen, das ist demüthigend traurig. – Es läßt sich gewiß auch von andrer Seite betrachten, aber diese wird bei mir immer predominiren. || Meine schlechte Gewohnheit unleserlich zu schreiben wozu die schlechte Feder das ihrige beiträgt, wird Ihnen diesen Brief sehr unangenehm machen, rechnen Sie es mit zu den vielen Sünden, die von Tante Jule auf Ihrer Rechnung stehen, und verzeihen Sie grosmüthig. Ihr Brief soll jetzt mein Abend und Morgen Seegen seyn, bis ich einen andern von Ihnen habe. Sie grüßen mir Fasch so schön wie möglich, sagen Sie ihm mit wie vielen guten vorsäzen ich zurück kommen werde, alle Fs der Wellt, guth zu singen. Ich denke Ihre Arie mir fertig wenn ich zurück komme, um mit erneuter Kraft und Stimme zu singen. Grüßen Sie mir Ihre Frau und alle Kinder von Ihrer Tante Jule. Wenn Sie Zeit und Lust haben laßen Sie mir doch was von dem großen Dienstag wissen. Grüßen Sie meine Schwester Voitus und durch sie meine Mutter und sagen Sie ihr daß sie wohl sehr bald einen langen Brief von mir bekömmt.“ – Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ erschien in Berlin bei Unger 1795-96: Bd. I im Januar 1795, Bd. II zu Ostern 1795, Bd. III im Herbst 1795 und Bd. IV im Oktober 1796 (FrA, I, 9, S. 1248). Zelter muß also zu den ersten Lesern des dritten Bandes gehört haben, wenn er ihn Mitte Juli schon lesen konnte. Dazu trug vielleicht sein Freundschaft mit dem Verleger des Werkes Johann Friedrich Unger (1753-1804) bei, durch die er möglicherweise sogar Zugang zu den Korrekturbögen hatte. Gleich nach der Lektüre machte er sich an die Komposition der in den Roman eingestreuten Gedichte. Bereits im Juli 1795 komponierte er das Lied des Harfners „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“, das er 1796 in seine „Zwölf Lieder am Klavier zu singen“ aufnahm. Ein Heft davon gelangte durch Friederike Unger an Goethe. – „In der Singakademie traf Zelter mit Julie Pappritz wieder zusammen […] Die Kunst wob ein zartes, aber festes Band zwischen beiden, und nachdem Zelters erste Frau am 24. Oktober 1795 gestorben war, führte er im nächsten Jahre [am 1. Mai 1796] Julie Pappritz als Gattin heim.“ (G. R. Kruse, Zelter, S. 25f.). – Vom Falz her feuchtigkeitsfleckig.