Rilke, Rainer Maria, Schriftsteller (1875-1926).

Eigenhändiger Brief mit Unterschrift Locarno, 12. I. 1920, Kl.-4°. 3 Seiten. Doppelblatt. Grau getöntes Papier. Mit eigenhändigen Umschlag.

Nicht vorrätig

Beschreibung

Schöner, ausführlicher und persönlicher Brief Rilkes an den befreundeten Johannes Graf von Kalckreuth (1893-1956), der sich in französischer Kriegsgefangenschaft befand: „[…] Sie wissen, dass es zwischen Ihrer Mutter und mir immer lange Schreibpausen gab, nun vollends in diesen Jahren, wie sollen sie nicht lang und unüberwindlich geworden sein, da doch die einzig mögliche Verfassung auf beiden Seiten das Verstummtsein, die Erstarrung sein musste. Nun aber hatte ich um Weihnachten einen langen guten Brief von Ihr. Nach, ich weiß nicht welchen Berichten, konnte ich annehmen, dass Sie längst nachhause zurückgekehrt seien, welche traurige Empfindung bereitet es mir, aus diesem Briefe das Gegentheil zu erfahren. Lieber junger Freund, unsere Begegnung im Sommer 14, wer von uns hätte das damals vorausgesehen! – Wenn Sie diese Jahre als grausam und schmerzlich verlorene betrachten, kann Sie’s trösten, wenn ich Ihnen versichere, sie sinds für mich ebenso sehr, ob ich gleich (mit Ausnahme eines halben Jahres) als mein eigener Herr in verhältnismäßig normalen Verhältnissen leben durfte. Die Unterbrechung, die Verstörung, das Entsetzen war immens – wie hätte sich da jenes Arglose und zur offensten Welt Bezogene leisten lassen, das meine Arbeit immer gewesen ist? Und vielleicht ist auch dies eine Tröstung, die Vermuthung auszusprechen, dass es fast wahrer gewesen sein möchte, diese innere Heillosigkeit in ungewöhnlichen, Ungewöhnliches fordernden Umgebungen durchzumachen, als so, irre scheinbar Harmlosen und Heilen […] Wenn’s geht, Lieber, halten Sie diese Jahre nicht für verloren: sie können ein unbeschreiblicher Vorsprung für Sie gewesen sein. Denn was kann später noch kommen, was Sie dieser Bindung ins Innere zu entreißen vermöchte, zu der dieser Verlust einer wirklichen und lebendigen Aussenwelt sie täglich erzogen und gezwungen hat? Ich kann mir’s nicht anders vorstellen, gerade wenn Ich an Sie denke, als dass Sie außen hart, innen aber unerschöpflich geworden sind […]“ – Rilke fügt noch einige französische Zeilen an, in denen er mitteilt, noch bis Juni in der Schweiz bleiben zu wollen. Rilke lebte von Anfang Dezember 1919 bis Februar 1920 in Locarno. – Beiliegt: Postkarte Graf Kalckreuths von 1948 an einen Autographensammler, mit der Bitte um Abschrift dieses Briefs.