Beschreibung
Großer politischer Brief an den nach Chile emigrierten Journalisten Paul Hesslein (1886-1953): „[…] bitte, lassen Sie, wenn Sie nicht von sich aus etwas darüber zu sagen haben, die Aeußerung von ‚Christ und Welt‘ (sie ist allerdings mehr ‚Welt‘ als ‚Christ‘) auf sich beruhen und entlocken Sie mir nicht eine Wiederholung und Bekräftigung meiner gelegentlichen Bemerkungen über den so genannten Schumann-Plan! Sie haben genug Staub aufgewirbelt, und ich möchte sehr gern meine Ruh‘ haben. Sie wissen, ich bin ein so guter Europäer und ein so alter Befürworter deutsch-französischen Einvernehmens, wie Sie. Alles, was ich gesagt habe, ist, dass der französische Minister sich auf die Psychologie der vollzählig wieder in ihre Machtstellungen eingerückten Ruhrgewaltigen immer noch nicht recht zu verstehen scheint. Wenn er ‚Europa‘ meint, – die Burschen meinen ganz etwas anderes, nämlich eben Macht, Vormacht, das deutsche Europa (statt des europäischen Deutschland), kurz, den nachträglichen Sieg Hitlers, dem ich aus alter Gewohnheit entgegen bin, soviel gewaltige Gunst er geniesst. Deutschland, das Hätschelkind dieser Gewalten, weiss ganz gut, wie es gemeint ist, – daher die [Wut] dort über die hingeworfenste Kritik von einflusslosester Seite. Wie es gemeint ist, weiss wahrscheinlich auch Schumann, dessen Autorschaft ich bezweifle. Er mag denken, dass es für sein Land immer noch am besten ist, sich als Junior-Partner in das Geschäft einzuschalten. Im Uebrigen sehen Sie ja, wie langsam die Sache vorwärts geht, wieviele Bedenken seit der ersten Verblüffung erwacht sind und wie viele Sicherungen man anzubringen sucht. Ich bin da gar nicht nötig – auch nicht dazu, ‚das französische Volk gegen seinen Aussenminister aufzuwiegeln‘. Dieser hat jetzt einiges wieder gut gemacht, indem er sich, recht unfügsam, dagegen äusserte, den Deutschen Waffen zu geben. Man solle sie vielmehr Schanzarbeiten verrichten lassen. Soviel Humor das hat, – in Deutschland wird es zu seiner Popularität nicht beitragen, und selbst die Schönheit seines Plans wird in den Augen der Deutschen darunter leiden. Dies alles streng unter uns. Ich habe nicht die geringste Lust, das Pariser Interview wieder aufzufrischen und aufs neue deswegen ins Geschrei zu kommen […]“ – Thomas Mann erwähnt den vorliegenden Brief in seinem Tagebucheintrag vom 18. September 1950 („Brief an Pablo Heßlein, privat, über den Schumannplan.“). Dieser Brief galt bisher als verschollen, da er im Familienbesitz verblieben ist. – Hesslein emigrierte 1938 nach Chile, wo er einen wöchentlichen Presse- und Informationsdienst („Politische Briefe“) betrieb, zu dessen etwa 400 Abonnenten auch Thomas Mann zählte. – Der erstmals im Mai und sodann auf der Außenministerkonferenz im September 1950 vorgelegte sogenannte „Schuman-Plan“ des französischen Außenministers Robert Schuman (1886-1963) forderte die Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion unter einer gemeinsamen Behörde. Das Saarland sollte unabhängig bleiben. Auf diesen Plan geht der Vertrag über die Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (Montanunion) am 18. April 1951 zurück. Er gilt als Gründungsdokument der Europäischen Union.