Frisch, Max, Schriftsteller (1911-1991).

Maschinengeschriebener Brief mit eigenhändiger Unterschrift „Frisch“. Ohne Ort [Zürich], 24. X. 1952, Fol. 1 Seite.

Nicht vorrätig

Beschreibung

An Annemarie „Mirl“ Suhrkamp-Seidel (1895-1959), die Gattin des Verlegers Peter Suhrkamp: „Lieber armer Mirl! In meinem Schreibblock liegt ein angefangener Brief – ich wollte dann doch, bevor ich Dir mitteile, dass ich von der Nordsee herunter in Zürich eingetroffen bin, die ‚Grashafe‘ [Roman von Truman Capote; übers. von Annemarie Seidel und Friedrich Podszus; 1952] lesen; nun kommst Du mir aber, wie ich heute vernehme, mit Klinik zuvor. Du tust mir herzlich leid! Peter [Suhrkamp] deutet an, dass es eine Hautsache sei; heisst das Nerven? Ich danke Dir für die drei Bücher mit Widmung, wovon ich je eines für Eggebrecht und für Deine Schwester [Ina Seidel] an den Verlag zurückschickte. Es sieht hübsch aus. Ich bin gerade am neuen Hemingway [‚Der alte Mann und das Meer‘], dann kommt die Grasharfe … Die Nordsee ist inzwischen ziemlich entschwunden. Frau und Kinder haben sich doch sehr gut erholt, wie sich zeigte. In den Kindern, auch in Charlotte [geb. 1949] steigen gelegentlich, wenn man den Zusammenhang nicht erraten kann, Bilder von Kampen auf, ja, die Eindrücke vom Watt sind bereits derart verarbeitet, dass sie, wenn nichts mehr im Teller ist, von Ebbe reden. Ich selbst bin sehr froh, dass wir die liebe Gelegenheit, aller Ferne zum Trotz, ergriffen haben; unsere Landschaft hier geht mir auf die Nerven. Das Jahr in Amerika [1951-52 als Stipendiat der Rockefeller-Stiftung] hat meine Heimatliebe noch mehr zersetzt, ohne mich so frei zu machen, wie ich hoffte, meine immer wiederkehrenden Hassanfälle auf Zürich sind keineswegs überwunden. Wie Du vernommen haben wirst, habe ich die ersten sechs Wochen hier in heftiger Arbeit verbracht; obschon die Komödie [‚Herr Biedermann und die Brandstifter‘] nicht ‚fertig‘ ist, bin ich vorderhand nicht mehr imstande, weiter daran zu arbeiten, und flattere nun etwas umher, bedürftig nach menschlichen Begegnungen, aber die einzige, die der Himmel mir vergönnt, ist leider wieder eine Frau, eine verheiratete, so dass wir zusammen gerechnet einen Hintergrund von sechs Kindern haben, was die Bewegungen etwas schwerfällig macht. Und sonst? Gestern zum ersten Mal im Theater: Sechs Personen suchen einen Autor [von Luigi Pirandello], ich sah es zum ersten Mal, ach, nicht ohne Pein darüber, wie die Zeit selbst das Kecke und Gekonnte bald verschimmelt. Obschon es ein Stück für Schreiber ist, Kunst, die sich selbst zum Thema nimmt, sass ich in Bewunderung ohne einen Hauch von Faszination. Inzwischen ist ja [der Verleger Emil] Oprecht [am 9. Oktober 1952] gestorben; Thomas Mann verabschiedete ihn mit echter Würde [‚Abschied von Emil Oprecht]‘]. Kurz zuvor [am 29. September 1952 im Zürcher Schauspielhaus] hielt Mann seinen Vortrag: Der Künstler und die Gesellschaft. Sehr grossartig; er streifte Wesentliches und also Heikles, wie es in unseren Gegenden nur noch im Schutze eines Weltruhmes auszusprechen ist, und schon ihm, Zürichs lebendigster Zierde, nehmen sie es nur noch mit verbissenen Gesichtern ab. Wann erscheint denn [Friedrich] Podszus hier? Es geht nicht, dass man mich hier so allein lässt; ich komme ins Saufen, denn anders ist dieser Aussenposten (ich wüsste freilich auch nicht, wo eine Mitte wäre) auf die Dauer nicht zu halten. Vergangene Woche habe ich etwas gezwungener Massen wieder einmal vorgelesen, besser als in deinem soviel lieberen Zimmer, und zwar die ersten Akte aus dem Juan [Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie‘; 1953], der Saal war pumpsvoll, die Leute sehr aufmerksam, ich hatte ein sehr gutes Gefühl auch nach den Gesprächen, jetzt allerdings unterrichtet mich die Presse, dass ich existenzialistischen Nihilismus vorgelesen habe, frivol, salopp und gar nicht poetisch. Und dazu der Föhn! Ringsum ist es grau und nässlich und windet wie um ein Kinderheim an der Irre. Mirl, wann sehen wir zwei uns wieder? Ich wünsche Dir rasche Genesung; die Rollen sind nun einmal verteilt, und es geht nicht, Mirl, dass Du unser Mitleid beanspruchst, schliesslich sind wir die Männer […]“ – Sehr selten so früh und so ausführlich und inhaltsreich.