Beschreibung
An den Schriftsteller Alfred Wolfenstein (1883-1945) über dessen lyrischen Erstling „Die gottlosen Jahre“ (1914): „[…] Ich habe den k. k. ärarischen Feiertag abgewartet, um Ihnen mit Sammlung über den Eindruck Ihrer Verse zu schreiben. Was mir das Wesentliche an ihnen scheint: sie sind lieber bedeutend als ’schön‘ in dem Sinne, den Flaubert als ‚pohésie‘ der ewigen Verachtung überliefert hat. Diese Ihre Verse haben eine ganz eigentümliche ‚Naivität‘ der Geistigkeit, die vielleicht das tiefste Rassenmerkmal unseres Volkes ist, haben jene Ungehemmtheit und göttliche Schamlosigkeit der Bewußtheit, die ich an ostjüdischen Studenten bewundere und die ein Zimmer, in das so einer eintritt, sofort mit Nachdenken bis zur Decke anfüllt und sprengt. Durch die Teilung in drei Abschnitte ist im Sinn manches noch klarer geworden. Nur scheinen mir die beiden ersten Abschnitte ihr Thema deutlicher zu umfassen als der dritte das seinige. Ich liebe zwar unendlich das letzte Gedicht, mit seinem zarten einfachen zerschmetternden ‚Ich sei so nicht gerne‘ (wie das im Ohre nachklingt!); aber der Weg in die Landschaft aus der Stadt ist doch nur ein Symbol für eine innere Befreiung aus dem Nur-Rationalen in den Mitfühlenden des Volkes und damit der Welt. Hier sehe ich Ihren ferneren Weg angedeutet, zu einem gleichsam substantielleren Gefühl als dem nur traumhaften der ‚Vereinigung‘ (Seite 76), zu einer Pflicht und ernsten Aufgabe, zu einem ‚Du sollst‘. – Ich glaube daß Ihre weitere Entwicklung uns noch näher zusammenführen wird. Haben Sie meinen Aufsatz im Aprilheft der ‚weißen Blätter‘ gelesen, – eine Ehrenrettung der Ratio, die Statuierung einer Synthese zwischen ihr und dem jetzt allzu modernen Irrationalismus, mit der aber Ernst gemacht werden muß? Vielen Dank für Ihre Kritik, die mir ausgezeichnet erscheint. Dieses Grundthema unserer gegenseitigen Beziehung (Ratio: Irrat.) schlägt eine wahrhaftige Brücke zu dem Wesen des Buches, wie es auch mir erscheint, und deshalb täte es mir leid, wenn ihre Arbeit verloren gienge. Ich schreibe zunächst an [Franz] Blei um Aufklärung und werde Ihnen dann weiter berichten […]“ – Seite 1 mit kleinem Feuchtigkeitsfleck.