Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).

Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Göttingen, 30. XII. [ca. 1913], Kl.-4°. 4 Seiten. Doppelblatt.

Nicht vorrätig

Beschreibung

An die Jugendfreundin „Misulka“. Unter dem Einfluss der Freudschen Traumdeutung analysiert Lou die Träume der Freundin und weist dabei die Lehren von Freuds Zeitgenossen Eugen Kalkschmidt und Erich Wulffen rigoros zurück: „Liebste Misulka, ja auch Dir herzlich: s novym godom [kyrill.: gutes neues Jahr]! ich hab mich im alten noch halbtodt gearbeitet, aber es war wundervoll schön, und nun liegt um uns (freilich nur hier oben so weiß) mächtig dicker Schnee und alle Bäume stehen wie verzaubert. Möchte das neue Jahr Dir den lästigen Schwindel fortnehmen, möchte er auch nach der letzten Attaque neuerdings, ganz wieder vergangen sein. Dein Traum ist natürlich nicht nur eine Tanzwunscherfüllung von dunnemals, – davon bekommt man nicht noch Morgens strahlende Augen etc. Sondern, über das (in Deinem ‚Nichtfortgehenwollen‘ gehemmter Beine, symbolisch Deiner Mama gegenüber) noch jetzt wirkende Sinnbild der ‚Beine‘ erfüllt dies Tanzen eine viel tiefere Art der Wunscherfüllung im Leicht- und Freiwerden. Aber eben weil eine volle Wunscherfüllung, darum tritt es nicht auf als ein Wegtanzen von ihr, sondern ein Tanzen mit ihr (die zugleich als Tänzer & Tänzerin erscheint, weil weiblich und für Dich doch stets so sehr als der männlich stärkere Teil wirkend.) In diesem Tanz mit ihr vereint sich der emanzipatorische Drang nach eigner freier Leichtigkeit mit dem nach der Liebeserfüllung, mit den zartesten unbewußten Vereinigungsträumen, [Einweisung: eben darin liegt die Traum-Wunscherfüllung daß diese auseinandergehenden 2 Tendenzen sich liiren. Daß der Traum sich gerade dieses Lebens bedient, daß kommt natürlich von dem was du über das Tanzen in deiner Jugend erzählst.] (Tanzen ist überall Symbol dafür.) Du selbst sagtest ja, wie sehr grade Deine Mama solche Wünsche in Dir ungewollt hemmte, weil sie selber anstelle von Männern das Kindliche und spätere Liebesgefühl ablenkte. (Drum ist der tanzende Partner später ‚todt‘, aber es macht Dir nichts, da alles sich bereits erfüllte. Und die Nachwirkung dessen machte den Morgen Dir noch im Wachen so froh.) Ich hab momentan keine Zeit, über dies nur ganz anfängliche Deuten hinauszugehen, es geht viel, viel weiter und tiefer. Achte mal gelegentlich auf Träume die Deinen Hals betreffen: ganz todtsicher spielt sich bei Dir in der Halsregion mindestens so viel ab wie an den Beinen. Das dachte ich schon längst. Das Singen bei Frl. R. ist ja doch eine Mutter-Uebertragung, beim Singen erlebtest du mehr als Gesangfreude. Der Kehlkopf ist dadurch reizbar in seinen Nerven (Katarrhe, und manchmal beim Essen die Idee das was hineingeraten ist). Was den Wulffen & Kalkschmidt anbetrifft, so erlaubt ja Freud stets wieder das Sonderbare, daß seinem Fach – diesem allerdunkelsten, am schwierigsten gerecht zu werdenden – Jedermann glaubt ein Kritiker werden zu dürfen, was man dem einfachsten anderen Fach gegenüber nicht ohne die speziellsten jahrelangen Studien antun dürfte. Den Sinn von ‚pervers‘ so nach der geltenden Schablone zu verdrehen und zu banalisieren ist noch mehr dumm als nur naiv. Der Zusammenhang aller tiefsten Einsichtstriebe mit dem Trieb zur Mutter gilt nicht nur für Hamlet sondern für alle Menschengeborenen. Dir selbst würde genau das Hamletproblem passieren, solltest du von deiner Mutter wähnen daß sie deinen Vater umbrachte oder hinterging: weil deinem Haß und Abscheu unbewußt, ahnungslos, ein Hemmschuh beigegeben wäre in Gestalt des Gefühls für die Mutter (an Wulffen liegt nichts, aber insofern er Freud vertritt, ist von solchen Kritikern erst ein Wissen u. praktisch-wissenschaftliches Durchprüfen zu verlangen, ehe sie den Gelbschnabel auftun. Basta.) […]“. – Der vorliegende Brief, der auf das 1913 in der Forschung viel diskutierte „Hamletproblem“ Bezug nimmt, steht ganz unter dem Einfluss der Psychoanalyse Sigmund Freuds, bei dem sie 1912 und 1913 studierte und dessen Mittwochs-Sitzungen sie besuchte. Lou Andreas-Salomé wendet sich entschieden gegen die Lehren Erich Wulffens, der 1913 ein Buch über „Shakespeares Hamlet: Ein Sexualproblem“ veröffentlichte und darüber hinaus ein antiquiertes Frauenbild vertrat, wonach Frauen Wesen geringerer Intelligenz und Empfindsamkeit mit einer angeborenen (!) Disposition zur Prostitution seien. Im selben Maße ablehnend äußert sie sich gegenüber Eugen Kalkschmidts ebenfalls 1913 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse publizierten Studie über „Hamlet, ein Mutterproblem“. Zwei Jahre später eröffnete Lou Andreas-Salomé als erste Frau überhaupt 1915 in Göttingen eine eigene psychoanalytische Praxis. – Vgl. Erich Wulffen, Shakespeares Hamlet. Ein Sexualproblem, Berlin 1913; Eugen Kalkschmidt, Hamlet, ein Mutterproblem, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 42, 18. Oktober 1913; Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 193, 267ff.