Beschreibung
An die Jugendfreundin „Misulka“, gleichsam ein psychoanalytisches Therapiegespräch in Briefform: „Liebe Misulka, herz-lichen Dank für Deinen lieben Brief, auch den von Paris habe ich nun über Göttingen empfangen. Ich muß noch eine Weile hier bleiben, aber darin hast Du Recht, daß ich hier nicht zu ordentlichen Beantwortungen kommen werde. Insofern tut es mir doch leid, daß wir über die fraglichen Dinge nicht mündlich mehr verhandelten, denn da ist eine halbe Stunde mehr, als monatelanger Briefwechsel. Weißt Du: die Fixierungen an ursprüngliche Kindesliebe-Object stehen ja immer hinter diesen Sachen so auch bei dir; darauf wird das spätere Erleben gewissenmaßen scheinbar, läuft länger ab, als gleichsam nur markierte Erinnerung im tiefsten Grund ist ja alles überhaupt stets Wiedererinnerung. Bei dir kommt aber noch in Betracht der Um-stand der Mutterfürsorge und Abhängigkeit während der Jahre wo du nicht gehen durftest, daher wurde seit dem Tode deiner Mutter, in der befreitern Unabhängigkeit, dein Gehen Symbol für Fortgehen von ihr, – nicht, weil sie starb, sondern weil es deiner Sehnsucht entsprach; diese Sehnsucht einerseits, andrerseits die nach ihr sich zurücksehnende Liebe, entsprachen einem Zwiespalt, der seit 12 Jahren, seit ihrem Kranksein, sich in Unsicherheit beim Gehen, Platzfurcht etc ins Körperliche übersetzte. Sofern eine kleine Herzerweiterung beim Schwindel im Spiel ist, ist sie doch von solchen Anlässen (wo keinerlei Anstrengung vorangeht, wohl aber eine Aenderung etwa in der Belichtung oder im Straßeneindruck, also irgend ein Sich-Orientieren zu müssen oder ein Sich-suchen-fühlen zu sollen) zu unterscheiden: das ist ja nur ein körperlicher Anlaß, eine bloße Gelegenheit, zum an sich nervösen Symptom. – Die Dinge, die mit dem ‚Sehen‘ zusammenhängen, sind ganz außerordentlich bedeutsam für alle Symptome von Abhängigkeits- und analogen Zwiespalten. Aber es geht praktisch nicht, sich schriftlich über dergleichen zu unterhalten. So will ich dir adjüs sagen und viele herzliche Grüße, von Ellen, und einen dicken poseluy [kyrill.: Kuss] von Lou.“ – Datiert werden kann der Brief sicher auf die Zeit nach 1913, also nach dem Ende des Studiums der Psychoanalyse in Wien, möglicherweise sogar auf das Jahr 1913, da es aus diesem Jahr weitere Briefe an „Misi“ ähnlicher Thematik gibt. Als Ort lässt sich München vermuten, wo sie 1913 am 5. Psychoanalytischen Kongress teilnahm, oder auch Dresden, wohin Lou Andreas-Salomé nach dem Kongress mit Rilke reiste (Decker, S. 357). – Vgl. Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 193 und 357. – Die erste Seite mit Klammerspur.